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Maria von Linden Calw Gymnasium

"Wenn der Säugling zum Säugenden wird", Artikel im Schwarzwälder Boten zum Kulturcafé mit Harald Martenstein

Erstellt von Roland Stöß |

"Wenn der Säugling zum Saugenden wird", Artikel im Schwarzwälder Boten am 13.12.2017

Zu Beginn klang es fast wie eine Drohung. 200 Zuhörer im Maria von Linden-Gymnasium in Stammheim erfuhren, Harald Martenstein würde 80 bis 90 Minuten vorlesen, um danach für die Fragen des Publikums zur Verfügung zu stehen.

Bei den 90 Minuten Lesezeit blieb es. Der Gast aus Berlin brachte es aber fertig, das kulturbegeisterte Calwer Publikum mit unterhaltsamster Kurzweil, wie sie bei einer Lesung nicht immer zu erleben ist, in die Welt des Journalismus zu entführen.

Der Einladung des Kulturcafés des Maria von Linden-Gymnasiums (MvLG) folgten neben vielen Erwachsenen eine ungewöhnlich große Anzahl von neugierigen Schülern. Letztere erfuhren, dass Zeitungslesen auch viel Spaß bereiten kann. Markus Leukam, einer der Organisatoren, beendete alles mit einem einzigen Satz: "Es ist für mich mit diesem Abend und dem Auftritt des Harald Martenstein ein Herzenswunsch in Erfüllung gegangen."

Martenstein. Viele kennen ihn als Kolumnisten und Redakteur verschiedener Printmedien, manche als Romanautor. Ein Ironiker, manches mal auch Zyniker allerhöchster Güte. Zwischen 14 gelesenen Kolumnen plauderte er aus dem Nähkästchen eines Schreiberlings, der in seiner 30-jährigen Laufbahn auch Fehler gemacht hat. "Wer behauptet, in solch einem Zeitraum keine Fehler gemacht zu haben, ist irre."

 

"Mit Ironie und Sarkasmus ist das so eine Sache; wenn Satire zu dünn ist, bemerkt sie keiner. Zu dick aufgetragen, wirke sie plump", sagt er. Man müsse einen Mittelweg finden. Als prägendes Vorbild nennt er eine Satire des Iren Jonathan Swift zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Dieser schlug unter großer Empörung vor, dass zur Beseitigung von Überbevölkerung, Armut und Kriminalität irische Kinder als Nahrungsmittel verarbeitet und so von Nutzen sein werden. Dadurch würde auch der Export angekurbelt werden.

Auch Martenstein fühlt sich angestachelt, wenn eine Gruppe sage, über sie dürfe keine Witze gemacht werden. Dann schreibt er noch lieber darüber. Solange, bis sich keiner mehr aufregt. Es gibt fast nichts, über das er sich nicht schon ausgelassen hat.

Der Kulturcafé-Abend bot einen Querschnitt gesellschaftlicher Themenbereiche. Vom Mann, der auf Bitte seiner Partnerin Macho sein soll und eben dadurch ein Softie wird. Martenstein, selbst Vater eines dreijährigen Kindes, macht sich Gedanken um den Sinn oder die Sinnlosigkeit des Kinderkriegens. Beschäftigt sich mit der geschlechtsneutralen Endung des Professorentitels ebenso humorvoll wie mit Genderthemen, Feminismus oder alten Männern.

Zusammenhänge, auf die man erst kommen muss

Nichts ist erfunden. Alle Geschichten beruhen auf wahren Begebenheiten. Es sind zudem immer wieder erkennbare Personen, über die er schreibt. Natürlich hole er sich vorab die Zustimmung derer. Sagen sie ja, schreibt er. Sagen sie nein – auch. Typisch Martenstein. Dann eben in abgeänderter Form.

Er ergreift Partei für die Schwaben, wenn ein thüringischer Schwabenhasser – Wolfgang Thierse – Stuttgart zur Provinz umdeklariert und die Süd-Immigranten auffordert, doch bitteschön Schrippen anstatt Weckle zu bestellen.

Martenstein stellt gedankliche Zusammenhänge her, auf die muss man zuerst einmal kommen. Dass die von ihm erzeugten Überraschungen immer wieder gelungen sind, bestätigt das Auditorium ein ums andere mal mit großem Applaus. Man ist geneigt zu sagen: "Ja – der spricht mir aus der Seele."

Mit dem mehrfach ausgezeichneten Preisträger der schreibenden Zunft wundert man sich über die Absurdität mancher Umfragen; über deren skurrile Fragestellungen, aber auch über deren Antworten. Wonach elf Prozent der Deutschen einen Krieg gegen den Steuerfluchtort Liechtenstein für gerechtfertigt hielten. Gleichzeitig sieht jeder Hundertste Frankreich als die Macht an, die Deutschland atomar am meisten bedrohe.

In einer anderen Schrift lässt er sich darüber aus, dass Menschen die Endung "ling" im Wort Flüchtling abwertend bewerten. Denkt man doch sofort an den Fiesling oder Feigling. Geflohene wäre korrekt. Für Martenstein eine Steilvorlage zur Ironie. "Wie halten wir es mit dem Liebling, dem Zwilling – sogar dem Schmetterling? Darf aus dem Säugling ein Saugender oder Gesaugter werden?"

Martenstein liest nicht nur vor. Er trägt seine Gedanken mit der entsprechenden Gestik und Mimik vor. Er legt den Finger in Wunden. Manch einem tun sie vielleicht weh. Je nachdem, wo man gerade als Betrachter steht. Auf jeden Fall gibt der 64-Jährige Anlass zum Nachdenken.

Ein herrliches Beispiel einer mit Ironie gespickten Kolumne ist jene vom Erlernen der "Rechtschreibung nach Gehör". Die Idee dahinter: Der Erfolgsdruck solle für die Kinder entfallen. Die Folge: Den Satz "die Schulä fenkt an" sollten weder Eltern noch Lehrer kritisieren dürfen. Das Ergebnis: Es gibt immer mehr Kinder mit Rechtschreibschwächen. Eltern sagt man beim Elternabend, "es soll Freude machen". "Richtig" oder "falsch" seien relative Begriffe. Der Clou: Der Kolumnist Martenstein wünscht sich beim Besteigen eines Flugzeugs, dass er von einer Crew betreut wird, deren Mitglieder sich früh dran gewöhnt haben, mit Erfolgsdruck zu arbeiten. Man könne ja Piloten zulassen, die ohne Erfolgsdruck und mit viel Freude die "Rächtschraibung" erlernt haben. In diesen Flugzeugen müssten dann aber die deutschen Bildungsreformer reisen.

Der Journalist des Jahres 2004 kann auch anders. Nachdenklich, in keinster Weise komisch. Als Zugabe las er eine anrührende Liebesgeschichte aus seinem neuesten Buch "Im Kino". Dieses und viele andere seiner Werke wurden dann an Ort und Stelle hundertfach verkauft. Die ungewöhnlich lange Menschenschlange vor dem Bücher signierenden Harald Martenstein bestätigte, dass er mit seinem Genre in Calw sehr gut angenommen worden ist.

Harald Martenstein (rechts) war ein gern gesehener Gast im Maria von Linden-Gymnasium. Foto: Stöß